Die Lust, weit zu gehen ...
Michael Seibel • München Venedig (Last Update: 01.08.2014)
Manchmal
wird es gerade dann richtig interessant, wenn alle sagen: „Jetzt
gehen Sie aber wirklich zu weit!“ Denn genau das bekommen Sie
zu hören, wenn Sie vorhaben, zufuß von München nach
Venedig zu gehen.
Gehen
wir los. Von München, am besten früh morgens - dann hat man
noch den ganzen Tag - geht es die Isar entlang über Pullach bis
Schäftlarn. Eigentlich gehört noch fast die Hälfte des
Weges des ersten Tages zum Stadtgebiet von München, aber an der
Isar merkt man nichts davon. Man ist sofort im Grünen. Das
Kloster Schäftlarn ist für die meisten erstes
Übernachtungsziel. Hier gibt es die verdiente Brotzeit im
Biergarten.
Weiter
geht es dann am nächsten Morgen vorbei am Ickinger Wehr zur
Puppinger Aue bei Wolfratshausen. In der grünen, wild
zugewucherten Puppinger Aue fühlt man sich auf dem schmalen
Wanderweg wie in in einer Art Miniatururwald.
Man
kann planen, soviel man will, der Weg von München nach Venedig
steckt voller Überraschungen. Die erste Überraschung kam
mir gleich in der Puppinger Aue in Form zweier Nacktwanderer
entgegen. Zwei junge Münchner um die 30, bestens gebaut, bestens
tätowiert und gepierct, aber in stabilen Wanderstiefeln mit
dicken Funktionssocken. Der Weg ist eng und man kommt kaum aneinander
vorbei. Nun sind Wanderer freundliche Leute, auch wenn sie nackt sind
und gepierct. Ich höre ein ganz konventionelles „Grüß
Gott“. Das fand ich irgendwie unpassend. Aber so grüßen
wandernde Bayern eben, ob nackt oder nicht. Ich habe das Gefühl,
vor Lachen zu platzen, aber das traue ich mich natürlich nicht.
Der Weg ist eng, die Jungens sind stärker als ich und wir sind
allein.
Weiter
nach Waldram, Ascholding und dahinter St. Georg. Immer wieder
beeindruckend die alten Häuser mit den Lüftelmalereien in
Bad Tölz, dem Ziel des zweiten Tages, das man Richtung
Isarwinkel wieder verlässt.
Wenn
man den Weg München-Venedig wirklich ab München macht, hat
das den Vorteil, dass man an den ersten beiden Tagen fast keine
Steigungen gehen muss und herrlich ins Wandern hineinkommt. Erstes
Berggefühl gibt es auf der Brauneck. Hier erwischt uns
allerdings auch das erste Mal so richtig schlechtes Wetter. Uns, das
sind neben mir noch Elke und Rainer. Wir haben uns auf der Brauneck
instantan kennengelernt, als das schlechte Wetter uns allen
nahelegte, uns nach Mitwanderern umzusehen. Für Elke und Rainer
ist der gemeinsame Weg nach Venedig ihre Hochzeitsreise.
An
Tag vier geht es runter nach Jachenau. Zum Glück lässt das
Mistwetter nach. Der Bergwald wirkt wie ein vom Boden her dampfender
Suppentopf. Wir erleben die erste Überraschung: In Jachenau
finden wir kein Hotelzimmer. Nicht weil es da keine gäbe,
sondern weil wir einen katholischen Feiertag übersehen haben, zu
dem das Dorf all zu gut besucht ist.
Zum
Glück lernen wir den Bürgermeister kennen. Ein sehr
zuvorkommender, besorgter Mann, der uns netterweise und ganz
kostenlos in der örtlichen Turnhalle unterbringt. Die Duschen
sind prima und auf den Turnmatten schläft sich nicht schlecht.
Als wir gegen 21 Uhr gerade dabei sind, einzuschlafen, öffnen
sich die Tore und die örtliche Peitschenknallergruppe (man
spricht wohl von »Goaßlschnalzern «
kommt zum Training herein. Es ist Festtag, etwas muss noch geübt
werden, bis es sitzt.
Das
hält uns nicht ab, uns am nächsten Morgen früh auf den
Weg zu machen und an der Förster Luitpold Alm vorbei über
den Rißsattel und am Rißbach entlang zur Österreichischen
Grenze zu wandern.
Ich
darf an dieser Stelle eine - wenn auch ganz überflüssige -
Empfehlung für die sehr leckere bayerische Küche
aussprechen, die das Gasthaus Post in Vorderriß serviert. Die
Empfehlung ist überflüssig, weil man an dieser Stelle der
Wanderung - es ist Mittag - so ziemlich alles essen würde. Aber
es ist eben nicht irgendetwas, sondern bayerisch vom feinsten. Der
Tag endet in Hinterriß beim Wein mit Blick auf die Hirsche im
kleinen Wildpark des Jagdschlosses Hinterriß. Es wirkt etwas
verkommen. Wie man hört, streiten sich die Erben und keiner gibt
Geld aus. Die Grenze nach Österreich liegt hinter mir.
Tags
drauf durchwandert man den Kleinen Ahornbogen in Richtung
Hochalmsattel. Eine Natursensation von einladender Schönheit.
Ich habe Glück mit dem Wetter. Die Alpen zeigen sich von ihrer
allerbesten Seite.
Der
sechste Tag endet am Karwendelhaus. Die Wanderer, denen man unterwegs
und auf den Hütten begegnet, sind eine ausgesprochen freundliche
und hilfsbereite Spezies Menschen zwischen 8 und 80. Die meisten
wollen natürlich nicht von München nach Venedig, sondern
sind Tagesausflügler oder wollen vielleicht eine Woche mit
Freunden das Karwendelgebirge erkunden.
Ein
paar Tage später werde ich eine Mitte 70-jährige Wanderin
treffen, die es mit ihrer Familie den gesicherten Klettersteig durchs
wirklich steile Val Setus zur Lavazza-Hütte in den Dolomiten
hinauf geschafft hat. Leute gibt's!
Aber
zurück ins Karwendel. Am nächsten Morgen wird es gleich am
Schlauchkar richtig alpin. Der Aufstieg zum Schlauchkarsattel ist
zwar relativ harmlos und doch die kräftezehrendste Sache der
gesamten Alpenüberquerung. Es geht 1000 Höhenmeter rauf,
aber das sind gefühlte 2000 Meter, denn man geht über sehr
lockeren, rutschigen Schutt, wie man ihn nur hier im Karwendel und
dann später wieder in den Dolomiten findet, auf dem man nach
jedem Schritt aufwärts mindestens einen halben Schritt abwärts
rutscht.
Ist
das Raufgehen meditativ? Eher nicht. Man denkt in Schimpfworten.
Oben
am Pass angekommen teilt man sich das Schnittchen mit den ersten
Alpendohlen, die hier auf einsame Wanderer zu warten scheinen.
Ab
hier wird der Weg ziemlich einsam. Die meisten der wenigen Wanderer,
die bis hier gefolgt sind, wollen ins Karwendeltal zurück. In
der anderen Richtung, beim Abstieg ins westliche Schlauchkar ist man
dagegen allein. Übrig gebliebene Schneebrücken überqueren
den Bach. Man mußte aufpassen, welche noch stabil sind. Hier
möchte man nicht verloren gehen. Der Weg ins Tal ist nun
wirklich meditativ. Ich war als Städter noch dabei, erste
Bergerfahrung zu machen, hatte die Weglänge unterschätzt
und nicht genug zu essen mitgenommen. Ich bekam Pudding in die Knie.
Unten biegt man ins Quelltal der Isar ein und erreicht die idyllische
Kasten-Alm, bei gutem Wetter ein Paradies mit Milch und Bergkäse.
Aber noch war der Tag nicht geschafft. Noch fehlten ein paar
Kilometer ins Lafatschertal und zum Hallerangerhaus. An diesem Tag
ist man ohne weiteres zwölf Stunden auf den Beinen. In dieser
ersten Woche ist offenbar viel mit meiner Fitness passiert.
Beim
Frühstück stehen die Lafatscher Berge schon in hellem
Sonnenlicht. Am 8. Tag: Aufbruch zum beeindruckenden, aber nicht gar
so schwer zu gehenden Lafatscher Joch mit tollem Rundumblick. Das
Joch liegt bei weitem nicht so hoch. Ein Spaziergang gegenüber
dem gestrigen Weg, aber eine tolle Rundumsicht. Das Wetter zeigt sich
nach wie vor von seiner besten Seite. Man sieht nach unten ins
Inntal.
Ich
hüpfe buchstäblich den Bergweg hinunter, so wie Kinder
Kästchen springen. Meine Laune ist offenbar die beste. Am frühen
Nachmittag komme ich in Hall in Tirol unten am Inn an. Es ist
Sonntag. Zunächst ist kaum jemand in der Stadt zu sehen, aber
aus der Ferne hört man einen Chor in den mittelalterlichen
Straßen singen. Was ist hier bloß los? Niemand da, aber
Schubert-Lieder klingen vom Markt her. Schnell finde ich den Grund.
Heute läuft gerade ein Sängertreffen in der Stadt. Das
lasse ich mir gefallen. Ein paar Straßen weiter, auch hier ist
so gut wie niemand, aber auch hier hört man noch deutlich die
Chormusik, suche ich mir ein Restaurant und lausche dem Konzert.
Während des Essens draußen auf der Terrasse ist eine
schwarz gekleidete Nonne der einzige Mensch, der sich blicken lässt
und durch die leeren Straßen voll Musik auf mich zukommt.
Am
kommenden Morgen geht es über die schöne alte Holzbrücke,
die in Hall über den Inn führt, in Richtung des Lager
Walchen wieder in die Berge. Hier übt die Nato, und die Gegend
ist Sperrgebiet, aber nicht für einfache Wanderer. Ich suche die
Lizumer Hütte. Es ist noch recht früh im Wanderjahr, erst
Mitte Juni, und die Hütte ist noch nicht geöffnet, hat aber
einen Winterraum. Hier treffe ich auch meine anfänglichen
Begleiter wieder, die ich ein paar Tage lang nicht gesehen habe.
Jeder hat halt sein Tempo.
Jetzt
nach mehr als einer Woche guten Wetters wird der Nachmittagshimmel
wieder unsicherer. Ein Gewitter zieht auf. Zum Glück sind wir im
Schutz der Hütte und nicht unterwegs.Außerdem habe ich
offenbar etwas Falsches gegessen. Das hat die entsprechenden
Konsequenzen.
Mit
der Lizum Walchen haben wir das Gebiet des Alpenhauptkamms betreten.
Eine ziemlich einsame Ecke um diese Jahreszeit. Es gibt noch eine
Menge Restschnee, aber zum Glück präsentiert sich das
Wetter am nächsten Morgen wieder von seiner besten Seite. Am 10.
Tag verlasse ich die Hütte und mache mich auf zur Geierscharte.
Wenn man sie einmal überschritten hat, hat man wieder einen
dieser grandiosen Ausblicke. Diesmal auf den Alpenhauptkamm mit dem
Olperer im Hintergrund und, was ganz herrlich aussieht, mit dem
Junssee im Vordergrund, wo, wenn es in der Wirklichkeit
Märchengestalten gäbe, sich Feen baden würden, falls
ihnen das Wasser nicht doch entschieden zu kalt wäre. Oberidylle
für Städter, die nicht wie früher die Bauern ihre
Erzeugnisse über diese alljährlich abrutschenden Wege
schleppen müssen, sondern einfach nur genießen.
Jenseits
des Junsees bekomme ich Arbeit. Es ist hier nicht leicht, im
Restschnee den richtigen Weg zu finden. Ich erinnere mich: Wenn du
nicht weißt, wo es lang geht, folge der Schafskacke. Was ein
Schaf trägt, trägt auch einen Menschen. An dem Satz scheint
was dran zu sein.
Nach
Stunden ist klar, dass ich wieder auf dem richtigen Weg bin. Ein
Bachtal öffnet sich und ich stehe mit einem Mal vor dem
Wasserfall im Weitenbachtal. Wieder einer dieser unvergesslichen
Plätze. Rast findet man dann im Tuxerjochhaus mit herrlichem
Blick zum Olperer hinüber. Zu erledigen sind wie immer die
Abendpflichten. Man hat zwei Hosen, zwei paar Socken und zwei Hemden,
sodass jeden Abend eins davon zu waschen ist.
Morgen
kommt die höchste Stelle der Alpenüberquerung, die knapp
3000 Meter hohe Friesenbergscharte. (Höchster Punkt, wenn man
vom Piz Boe in den Dolomiten absieht, zu dem man unterwegs leicht
aufsteigen kann, aber nicht muss. Der gilt als leichtester 3000er der
Dolomiten.) Die Friesenbergscharte verfügt über ein kurzes
Stück drahtgesicherten Klettersteigs, für den ein
Klettersteigset empfohlen wird. Wie man es richtig anlegt, habe ich,
der alte Stadtbewohner, zu Hause geübt. Hoffentlich klappt es.
Tag
11 beginnt also auf schwankenden Brücken hinter dem
Spannagelhaus auf unserem Weg zur Friesenbergscharte, die uns ihre
ausgesprochen unwirtlichen, schneebedeckten Flanken durch feinen
Dunst bedrohlich zeigt. Der Aufstieg durch Schnee erweist sich als
schwieriger als der spätere steile, aber abgesicherte Abstieg.
Kleine Wetterunterschiede können viel ausmachen. Da sage ich
Leuten, die mit den Bergen vertraut sind, sicher nichts Neues. Ich
als allein gehender Städter hatte das natürlich auch immer
schon gelesen, aber als Erfahrung war es mir neu.
Schön
finde ich am München-Venedig-Weg: So einsam es mitunter ist, so
schnell finden sich Leute zusammen, wenn es schwierig wird.
Unten
zeigt sich der Friesenbergsee, wieder einer dieser schönen
Bergseen wie gestern der Junssee. Das Wetter beginnt wieder etwas
freundlicher zu werden. Oder ist das mein Wunschdenken?
Tief
unten zeigt sich die Talsperre Schlegeisspeicher, als wir den
sogenannten Berliner Höhenweg zur Olpererhütte
hinaufsteigen. Der Weg wirkt, als hätten ihn Riesen gepflastert.
Man springt fast von einem auf den nächsten Stein. Das sind
keine normalen Schrittlängen. Endlich in der Hütte geht ein
langer Tag mit Budenzauber einer Reihe von Jugendlichen zu ende. Wir
singen und spielen Gitarre.
In
der Nähe hat es auf dem Weiterweg vor kurzer Zeit einen
Unfalltoten gegeben. Aber darüber spricht der Hüttenwirt
nicht gern.
Nebenbei
bemerkt habe ich bis jetzt schon eine Menge interessante Leute
unterwegs im Zug nach München und unterwegs auf den Hütten
kennengelernt, den Prior der Franziskaner in Tirol, der gerade von
einer EU-Konferenz aus Brüssel zurückkehrte, einen
Unternehmer auf Selbstfindung, einen Chirurgen und Notfallmediziner
mit seiner Frau (fand ich sehr praktisch, das waren meine beiden
Hochzeitsreisenden) und einen Bischof der Zeugen Jehovas aus den
Ruhrgebiet.
Am
nächsten Morgen geht es runter zum Schlegeisspeicher. Man stößt
auf ein paar Touristenautos, aber sogleich geht es wieder weg von der
Zivilisation Richtung Pfitscher Joch. Oben auf dem Joch quere ich die
österreichisch-italienische Grenze. Wenn man unterwegs die
Möglichkeit hat, bei Bauern einzukehren, sollte man das so oft
wie möglich tun. Die Lavitzalm war so ein Ort. Bis weit nach
Südtirol hinein verstehen sich die Bauern auf leckeres frisches
Brot, Käse, überhaupt auf tolle Milchprodukte und
Limonaden. Ja, Limonaden! Auf Basis selbstgemachter Obst- oder
Holunderblütensäfte.
Das
Pfitscher Joch Haus verläßt man Richtung Stein im
Pfitschertal. Geschlafen habe ich diesmal nicht auf einer Hütte,
sondern im Gasthof Stein bei einer wiederum talentierten Köchin.
Ich glaube, es war Pasta mit Ragout, Rotwein und Süßspeise.
Noch wusste ich es nicht, aber für den nächsten Tag braucht
man viel frische Kraft.
Man
kommt jetzt in den einsamsten Teil der Alpenüberquerung. Kurz
nach Stein, noch nah am Tal musste man unangenehmerweise über
ein paar Elektrozäune. Dann geht es Richtung Gliderscharte mit
tollem Blick nach links auf den Hochfeiler. Man begegnet hier
niemandem. Ein schlichtweg unbesuchter Teil der Alpen, obwohl sich
vielleicht gerade einmal ein Dutzend Kilometer westlich die
Brenner-Autobahn durch die Berge zieht. Die Gliderscharte liegt recht
hoch auf fast 2700 Meter.
Für
mich ist Inbegriff eines Bauernlebens, wie es anderswo vielleicht von
zweihundert Jahren stattgefunden haben mag, die obere Engbergalm.
Aber ein altes Moped hatte der Bauer schon, der hier in aller
sommerlichen Abgeschiedenheit seinen Käse machte und eine
Sprache sprach, die weder deutsch noch italienisch klang.
Von
hier wurde der Weg leicht, denn es ging den Rest des Tages nur noch
bergab nach Pfunders und von dort am nächsten Morgen weiter
bergab bis hinunter nach Vintl im Rienztal, einem Ort, in dem viele
Südtilol-Touristen durchkommen, per Auto oder Bahn, ob sie da
halten oder nicht.
Hier
heißt es durchatmen, denn von hier geht es wieder viele hundert
Höhenmeter rauf durch den Rodenecker Wald. Es war ein
herrlicher, zum Wandern vielleicht schon etwas zu warmer Tag.
Oben
öffnet sich der Wald auf das weite Plateau der Lüsener Alm
und gibt Gelegenheit zur Pause auf der Ronerhütte. Nach so
vielen Tagen Wanderung kommt man in einen Super-Zustand, der mir als
Städter bislang ziemlich unbekannt war, den Zustand einer extrem
angenehmen Selbstverständlichkeit von Bewegung, den Zustand
einer schwitzenden Mischung aus Müdigkeit und
Selbstüberschätzung. In diesem Zustand wandelte ich also
die Lüsener Alm entlang und sah sozusagen aus der ersten Reihe
einem mächtigen Gewitter zu, das irgendwo im Hintergrund langsam
aufzog, bis nach einer halben Stunde mehr als deutlich wurde, dass es
genau auf mich zukam, und dies mit einer Geschwindigkeit, die jedes
Ausweichen unmöglich machte und mir am Ende kaum noch erlaubte,
in Deckung zu gehen. Also weg mit allem, was aus Metall ist und eine
möglichst tief gelegene Mulde suchen.
Abgesehen
davon, dass ich nach wenigen Minuten völlig durchnässt war,
meinte es das Gewitter gut mit mir. Es war nur kurz und zog schnell
weiter.
Ein
echtes Highlight ist die Kreuzherrenhütte. In ihrer
traditionellen Holzbauweise und dem Alter, das sie bereits auf dem
Buckel hat, beeindruckt sie jeden Gast. Der Sohn des Hüttenwirts
spielte ein gepflegtes Akkordeon mit der Lust, die man hat, wenn man
vielleicht zehn Jahre alt ist und schon der beste im Ort. Wenn man
nachts im Hüttenfederbett lag, konnte man jede Kuh riechen, die
eine Etage tiefer im Stall stand. Eine wunderbare Hütte. Ich
hoffe, sie bleibt uns erhalten.
Am
nächsten Morgen war alles Unwetter verzogen, und uns trennte vom
Tal eine dicke Wolkenschicht. Eben die Wolkenschicht, die man im
Flugzeug nach ein paar Minuten unter sich lässt, wenn man an
einem Tag mit Mistwetter startet.
In
diesem Morgenlicht ging es über die Almen, die an die Lüsener
Alm anschließen. Heute wurde es ein Vormittag ohne viel
Steigungen. Man bleibt in der Höhe und schaut von oben auf die
Täler. Es war wieder Wandern zum Abheben. Vor dem Würzjoch,
auf dem man dann wieder den Autoverkehr quert, sieht man, wenn man
nicht all zu naturverklärt guckt, ein paar von den Wunden, die
der Wintersport den Bergen reißt. Man sollte alle
Wintersportler dazu verdonnern, sich auch einmal im Sommerlicht
anzusehen, was sie im Winter mit den Bergen machen.
Der
Nachmittag stand nun ganz im Zeichen eines meiner Lieblingsberge, des
Peitlerkofel.
Warum
gehört der Peitlerkofel zu meinen Lieblingsbergen? Ich weiß
es nicht genau. Ich finde, das ist ein Berg, so wie ein Berg aussehen
soll. Warum finde ich das? Von Gänseküken sagt man, dass
sie dem wie ihrer Mama folgen, den sie zuerst sehen. In meiner kurzen
Beziehungsgeschichte als wandernder Alpinist war der Peitlerkofel
einfach der erste Berg, bei dem ich zu mir sagte: Auf den willst du
also rauf? Du musst verrückt sein. Das war im letzten Jahr.
Meine Beziehung zum Peitlerkofel hat also etwas infantil Erotisches,
eine Mischung aus Prägung und Besteigen.
Oben,
bald hinter der Peitlerscharte, kommt man zur etwas zu groß
geratenen Schlüterhütte. Man ist jetzt in der Puez-Geisler
Gruppe. Wenn das Wetter schön ist – und es war schön
– ist hier auch jeder Blick schön. Die Dolomiten wirken
dann wie Puppenstuben-Alpen. Kein Weg ist so weit wie in den
Schweizer Bergen. Man überschreitet an einem Tag drei Pässe
oder mehr. Alle Wege sind kurz. Es ist wie in Rom mit den
Sehenswürdigkeiten, kaum hat man das Cafe an der Fontana di
Trevi verlassen und ist ein oder zwei Straßen gegangen, schon
ist man am Quirinalspalast. Die Sehenswürdigkeiten liegen nah
beieinander. So ist das in den Dolomiten auch. Landschaftlich war für
mich der Weg von der Schlüter-Hütte übers Kreuz-Joch
durch die Puez-Geisler Gruppe über die Puez Hütte bis
hinunter zum Grödner Joch der landschaftlich
abwechslungsreichste und wahrscheinlich schönste Tag der ganzen
Wanderung.
Ans
Klettern kommt man an der Focella Nivea, bis man das gleichnamige
Plateau erreicht hat; ein wenig unerwartet blieb diese Anstrengung.
Ein wenig italienische Luft scheint dann an der Puezhütte von
der Crespeina Hochfläche her herüber zu wehen. Der Eindruck
trügt keineswegs, auch wenn es der eine oder andere Südtiroler
nicht gerne hört. Venedig liegt irgendwie schon in der Luft,
wenn man den Crespeina See passiert, der in diesem Jahr nicht all zu
viel Wasser hatte, und sich an den Abstieg vom Cirjoch zum
Grödnerjoch macht. Es ist das erste Mal, dass man die Schätzung
für realistisch hält, dass Venedig erreichbar ist.
Auf
dem Grödnerjoch zu übernachten ist Blödsinn. Die
Hotels sind zu teuer und der Souvenirkrempel vor der Tür stört!
Hätte ich doch besser bereits auf der Puezhütte
übernachtet.
Was
hat mich eigentlich davon abgehalten?
Ich
habe dort den straßenräuberischen Charakter der Haflinger
Pferde kennengelernt. Der Hüttenwirt der Puez-Hütte besaß
ein Pferd, das die Angewohnheit hatte, ständig bei den Gästen
mitzuessen. Ich verfüge leider nur über die städtisch
abstrakte Rücksicht vor der Mitkreatur und nicht über die
erfahrungsgesättigte Fähigkeit, mir bei Pferden Respekt zu
verschaffen. Das blöde Vieh hat meinen Hütten-Cappuccino
ausgesoffen und die Umsitzenden hat entweder ebenfalls selbst die
städtische Lähmung erfasst oder sie haben sich totgelacht.
Ich sage nur: Vorsicht vor Haflingern. Ich kenne von einer späteren
Wanderung her einen Rastplatz im oberen Tchamintal am Rosengarten, wo
die Viecher gleich herdenweise und aus bester Gewohnheit den
Wanderern auflauern und sich über deren essbaren Rucksackinhalt
hermachen.
Was
ich allerdings auch von einer späteren Wanderung weiß: der
schuldige Haflinger auf der Puez-Hütte hats nicht überlebt.
Der Hüttenwirt musste ihn zum Abdecker bringen, weil er es mit
dem Raubsaufen übertrieben hat.
Hätte
mich also das Pferd nicht vor der gesamten Hüttenöffentlichkeit
blamiert, wäre ich vielleicht zur Nacht auf der Puez-Hütte
beblieben. So aber wurde es ein Hotel auf dem Grödnerjoch.
Und
weiter ging es. Das Sella Massiv steht an. Es sieht von unten aus wie
eine riesige Bergfestung. Seine Wände ragen steil auf, und man
weiß zunächst gar nicht, wo es denn da hinein und hinauf
gehen soll. Der Wanderweg führt auf halber Höhe am Massiv
entlang, um dann plötzlich unvermittelt ins Val Settus
einzubiegen. Das Val Settus ist kein beschauliches Tal, sondern eine
riesige steile Schutthalde, die bis vielleicht 200 Meter unter den
oberen Rand des Plateaus reicht, das den Hauptteil des Sellamassivs
bildet. Diese letzten 200 Meter sind abgesicherte Kletterei. Wenn man
oben steht, weiß man, was man getan hat. Oben findet man die
Pisciaduhütte und einen herrlichen Bergsee. Man findet
allerdings auch Nebel, Kälte und Schnee, denn man bewegt sich in
Höhen zwischen 2600 und 3100 Metern. Es war erst Juni. Auf
warmes Sonnenwetter gibt es in der Höhe keine Garantie.
Krone
des Sella ist der Piz Boe. Wie gesagt der leichteste 3000er der
Dolomiten. Es war in der Tat keine Überanstrengung, ihn vor der
Einkehr auf der Sellahütte noch zu machen.
In
der Sellahütte saß man gequetscht beieinander. Der
Hüttenwirt kann hier eigentlich niemanden abweisen. Ein
Wetterumschwung kündigte sich an, und die Leute oben auf dem
Sella-Massiv müssen irgendwo unterkommen. Außerdem sind
Wanderer ja, wie gesagt, ganz gut im Zusammenrücken. Das macht
sie sympathisch.
Am
nächsten Morgen war die ganze Landschaft rund um die Hütte
weiß. Es war Winter geworden mitten im Juni. Die Wege waren
glatt. Ich hatte keine Steigeisen mit, weil die recht schwer und
fürchterlich sperrig im Gepäck sind. Aber ich hatte Glück
und es ging gerade so auch ohne sie.
Herrliche
Blicke öffnen sich vom Sella Richtung Bindelweg und Marmolada.
Und was schön war: die Sonne kehrte gegen Mittag zurück und
mit ihr die Sonnenlaune. Runter ging es zur Forcella Pordoi und rüber
zum Bindelweg und später dann zum Lago Fedaia.
Auf
dem Bindelweg habe ich mir erst einmal einen Schock geholt. Beim
Wandern hatte ich längst vergessen, um welchen Wochentag es sich
gerade handelte, und es musste wohl schon wieder Wochenende sein. Der
Weg war voller Menschen. Man ging hier in Reih und Glied
hintereinander den alten Bauernweg entlang durch die grüne,
liebliche Landschaft. Irgendwo muss es einen Dolomitenführer
geben, in dem geschrieben steht, wenn deine Oma keinen Weg in den
Bergen mehr schafft, auf dem es was zu sehen gibt, dann transportiere
sie per Lift auf die Marmolada, da ist sie gleich ohne einen Schritt
zu Fuß auf 3400 Meter und kann alles von oben sehen, oder,
falls sie gehen möchte, nimm den Bindelweg, den schafft sie und
auch da gibt es die Marmolada zu sehen und dazu den Fedeia-See. Es
war also im Schritttempo anwesend so ziemlich alles, was Südtirol
an fremden und einheimischen Papas und Mamas, Kindern und Enkeln,
Omas und bergsüchtigen Opas zu bieten hatte, ein Prister im
Ornat führte eine große Gruppe erlösungsbedürftiger
Jugendlicher zur Messe unter freiem Himmel in die frische Luft der
sonntäglichen Berge. Man hatte die rechte Wiese für Kreuz
und Altar noch kaum gefunden, und staute schon mal den Weg vor den
Nachkommenden. Ein Hubschrauber flog unablässig Bauteile für
die Schutzhütte Viel del Pan ein. Und das am Wochenende! Die
Leute staunten. Man diskutierte allgemein die Kosten und verstand
dann plötzlich die Pastapreise auf den Hütten. Wenn viele
Leute zusammen sind, wird viel geredet. Wenn viele Italiener zusammen
sind, besonders viel. Man hört die hohen Stimmen der Mädchen,
die leidenden der Mütter, denen schon alles zu viel ist und die
quengelnden der Kinder, die wie immer nicht genug Gehör finden.
Und alles ist sehr laut, weil man ja gezwungenerweise auf dem Weg
hintereinander geht und nicht wie von der Stadt gewohnt, als
Familientrupp die ganze Straßenbreite besetzen kann, was
stautechnisch die gleiche Wirkung hat. Man hat also allen Grund, sich
auf dem Bindelweg zuhause zu fühlen.
Ich
fühlte mich über- und unterfordert gleichzeitig.
Überfordert wegen der vielen Leute und unterfordert, weil es mir
hier eindeutig zu langsam voran ging. Eigentlich reichte das
Tagespensum bis zum Fedaia See. Aber mir war nach Weitergehen und es
war gerade früher Nachmittag geworden im Wandererstau.
Wie
von allein ging es den Passo Fedaia hinunter zu einer engen,
malerischen Schlucht, dem Serrai de Sottoguda. Das Flüsschen,
das durch diese Schlucht fließt, heißt meine ich
Pettorina, und an ihm ging es den Nachmittag entlang. Es mündet
in ein etwas größeres Flüsschen und dies endlich in
den See von Alleghe.
Hier
machte ich Rast und hatte kaum gemerkt, dass ich zwei Tagesetappen an
einem Tag gemacht hatte. Wandern bringt einen wirklich in Form. Ich
hatte bis hierhin 10 Pfund abgenommen, trotz besten Essens und bestem
Rotwein.
In
Alleghe schlief ich im Sporthotel „Europa“. Nach den
Hütten und den zumeist einfachen Unterkünften der letzten
Wochen war das schon einmal deutlich etwas anderes, sich abends zum
4-Gang Menü mit ausgesuchten Weinen zu setzen und die
zuvorkommende Bedienung zu genießen, der ich der Noblesse wegen
in der inzwischen getrockneten zweiten meiner beiden Hosen
entgegentrat, die eigentlich erst am kommenden Morgen zum Einsatz
kommen sollte.
Nach
dem recht ausgiebigen Essen verlief ich mir wie ein Kurgast beim
Sonnenuntergang die Beine am See.
Es
war dies meine letzte Nacht in den Bergen der Dolomiten, was ich zu
diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht wusste, denn am nächsten
Tag bekam ich einen Vorgeschmack auf den Weltuntergang. Das Bergglück
wandte sich gegen mich.
Früh
morgens, es muss gegen sieben gewesen sein, denn früher bekommt
man im Hotel meist kein Frühstück, erwartete mich wieder
die herrlichste Sonne. Bald war ich abmarschbereit und machte mich
auf zur Talstation der Bahn zum Col die Baldi. Ich hatte für
heute vor, zum Coldaisee aufzusteigen und an der Chivetta entlang,
deren sensationelle Westseite fast eintausend Meter steil abfällt,
zum Torre Venetia zu wandern, einer landschaftlich exponiert
gelegenen Felsnadel für ehrgeizige Kletterer, die alle Bitten
ihrer Mütter in den Wind schlagen, gut auf sich aufzupassen. In
der Gegend liegt die Vazollei-Hütte, wo man die Helden vom Torre
Venetia auf den Bänken vor der Hütte antrifft, wie sie ihre
Gerätschaften pflegen und die Seile ordnen und – egal ob
Junge oder Mädchen – die Selbstzufriedenheit satter
Panther ausstrahlen, die zu zeigen man üben muss, bevor der
Eindruck gelingt. Diese ostentative Ruhe im eigenen Körper
durchkreuzt sich gleichsam mit der wissenden Sorge um den
Pflegezustand der eigenen Ausrüstung. Jungens und Mädels
geben gleichsam Tarzan und Putzfrau in einer Person. Ich finde das
eine reizvolle Kombination und kenne sie ganz gut von Bergsteigern,
Paraglidern, Drachenfliegern oder Tauchern.
Als
weiteren Tagesverlauf hatte ich mir dann die Wanderung an der
einsamen Südseite der Moiazza Berge vorgenommen. Ich hatte vor,
mindestens bis zum Rifugio Tomè, wenn nicht weiter zur
Pramperet-Hütte zu kommen.
Vom
Plan zurück zur Wirklichkeit. Oben am Col die Baldi öffnet
sich der Ausblick rüber zum Monte Pelmo, einem Solitär von
Berg, an den man sich später immer wieder erinnert. (Dabei fällt
mir auf, wie viele eindrucksvolle Berge meiner Wanderung ich nicht
einmal erwähnt habe. Der Langkofel hätte zum Beispiel
mindestens eine Erwähnung verdient.) Den Weg hinauf zum Monte
Coldai machte ich in der angenehmen Kühle des sonnigen
Vormittags. Der Coldai-See ist nach dem Aufstieg genau der richtige
Platz für eine Rast, bei der man leicht etwas die Zeit
verschläft. Nachdem man ihn passiert hat, wendet sich der Weg um
die Chivetta mit ihren wie schon gesagt sensationellen Abhängen
herum. Man passiert die Tissi-Hütte, die wie ein Adlerhorst
etwas abgerückt vor den Steilwänden der Chivetta liegt, die
Fenster seltsamerweise ausgerichtet auf die vielleicht fünfhundert
Meter entfernten Steilwand und nicht wie sonst anders herum mit
weitem Blick übers Tal. Die Wand war hier offenbar das
Interessante. Zwei Jahre später werde ich in genau dieser Hütte
sitzend, die ich nach bereits heftigem Platzregen gerade noch
erreichen werde, ein Alpengewitter erleben. Der Himmel wird sich fast
nachtschwarz verdunkeln und die Blitze werden in immer schnellerer
Folge die Steilabhänge der Chivetta erleuchten. Und links und
rechts und überall wird es krachen. Mir wird auffallen, dass
Blitze ganz und gar kein warmes Licht geben. Ihre Kälte,
Helligkeit, Häufigkeit, Plötzlichkeit gegen die Massivität
des Tausendmeter-Abgrundes der Chivetta. Dazu ein Donner-Soundtrack.
Und all das bei einem heißen Hüttentee. So geht großes
Kino.
Heute
freilich war ich nur ein wenig verspätet in den Nachmittagsteil
meiner Wanderung geraten. Es wurde schwüler. Ich begegnete ganz
unerwartet einem Wanderer, einer Art Spiegelbild von mir selbst, der
meinen München-Venedig-Weg in umgekehrter Richtung ging, also
von Venedig nach München. Es ist sehr unterhaltsam, wenn einer
den anderen fragt, was denn jetzt noch auf ihn zukommt. Wann hat man
schon einmal die Möglichkeit, jemanden zu treffen, der in die
eigene Zukunft schauen kann?
Aber
weiter. Nach dem Torre Venetia traf ich denn auch wirklich auf der
Vazollei-Hütte einen der wildkatzenhaften Helden der Berge bei
der Pflege seiner Geräte an. Wir kamen ins Gespräch und es
wurde wieder später und schwüler.
Von
hier noch aufzubrechen stellte sich als ein großer Fehler
heraus. Der Weg von der Hütte führte bergab. Der
Wirtschaftsweg verbreiterte sich. Er war nicht unbedingt für
Wanderer gemacht. Der eigentliche Wanderweg sollte irgendwo unten
rechts wieder bergan gehen, aber er war schwer zu erkennen und als
ich ihn schließlich gefunden hatte, war es schwer, ihm zu
folgen, weil er nur ziemlich schlecht markiert und durch junges Grün
überwachsen war. Oben am Bergrelief entdeckte ich die Umrisse
der Scharte, über die mich der Weiterweg führen würde.
Aber irgendwie saß ich fest. Der Himmel war unterdessen
verdächtig braun geworden. Ich hatte, in ein Seitental
gequetscht, ohnehin keine Fernsicht, um zu sehen, was los war. Ein
brauner Himmel, so als ob Dreck in der Luft ist? Das Braun verfärbte
sich binnen Minuten in ein Dunkelgrau. Ich ging im Kopf meine Chancen
durch. Zurück zur Vazollei-Hütte war unmöglich. Wenn
das Wetter in der nächsten halben Stunde schlechter würde,
würde ich mich schon auf dem ersten Kilometer Rückweg
hoffnungslos verlaufen. Weiter über den Kamm nach vorn? Da würde
ich genau in das aufziehende Gewitter hineinlaufen. Keine Chance. Mir
blieb nichts anderes über, als es auszusitzen. Also so weit wie
möglich den Hang runter in eine Schonung mit nicht zu hohen
Bäumen, aber auch weit genug vom Bach weg. Weg mit allem, was
aus Metall ist. Alles anziehen, was Wasser abweist. Isomatten
auspacken und auf den Boden, in der Hoffnung, dass sie auch gut gegen
Blitze sind. Draufstellen, Knie zusammen, hinkauern. Ein Männlein
steht im Walde.
Das
Krachen ging los. Der Regen ging los. Die Blitzeinschläge gingen
los. Es wurde dunkel. Leider kein Kino.Was jetzt kam, war reine
Glücksache. Und es hörte einfach nicht mehr auf. So als
hätte mein Hochtal das Gewitter geradezu eingefangen und lasse
es nicht mehr los.
Irgendwann
wurden die Blitze dann doch seltener. Aber der Gewitterregen hörte
keineswegs auf und es wurde schnell kälter. Ich hatte völlig
Recht gehabt, nicht weiter zu gehen und den
Col
dell Orso zu überschreiten, denn dort schlugen nach wie vor
Blitze ein. Außerdem hätte ich bei abendlichem
Schlechtwetter kaum sicher den mir unbekannten Weiterweg gefunden.
Ich
steckte fest und war klitschnass und fand die Berge zum Kotzen. Vor
ging nicht, zurück ging nicht, raus könnte gehen. Es wurde
dunkel. Alles war nass. Hinlegen und einfach draußen biwakieren
ging auch nicht.
Bei
Einbruch der Nacht ließ der Regen endlich nach und ich
beschloss, loszugehen, eigentlich nicht, um irgendwo hinzukommen,
sondern einfach, weil gehen warm hält. Die einzige Chance war,
den Wirtschaftsweg wiederzufinden. Der musste ja schließlich
irgendwo hinführen. Der Sound der nächsten zwei Stunden war
das regelmäßig patschende Geräusch des Wassers in
meinen vollgelaufenen Wanderstiefeln. Irgendwann erreichte ich die
Landstraße. Jetzt wäre eine Gaststätte gut. Aber ich
fand keine, die noch geöffnet hatte. Ich kam durch nächtliche
Orte, in denen nichts mehr los war. An einem verlassenen
Touristenrastplatz an der Landstraße gab es Wasser und ich
versuchte, meine Socken trocken zu bekommen. Ich erinnere mich gut,
wie ich barfuß im Dunklen am Brunnen gesessen habe, um die Füße
zu kühlen und die Socken auszuwringen.
Stockfinster
ist die Nacht auf Landstraßen in Südtirol. Es gibt keinen
Platz, wo man als Wanderer hingehört. Man geht ziemlich
unbeleuchtet auf Asphalt und muss sich das Gehupe entgegenkommender
LKWs anhören. Außerdem geht es durch eine ganze Reihe
Straßentunnel, die links und rechts keinen Platz für
Fußgänger vorsehen. Da kommt das Gehupe besonders gut.
Nicht
unschwierig fand ich auch das Verhältnis so mancher Bauern zu
ihren Hofhunden. Es bellte aus allen Ecken, aber bei weitem nicht
alle Hoftore waren verschlossen. Die Landstraße ist nachts auch
eine Art Hofhundeachterbahn.
Es
muss so gegen vier Uhr morgens gewesen sein, als das Gewitter wieder
einsetzte. Ich war bis kurz vor Belluno gekommen und brauchte
dringend eine Möglichkeit, mich unterzustellen.
Inzwischen
war ich mehr als zwanzig Stunden auf den Beinen und hatte von Alleghe
bis hierhin gut 50 Kilometer hinter mir. So fertig wie ich war, war
mir eine überdachte Bushaltestelle mit Bank gerade recht, um
jetzt doch zu biwakieren, zumal der Fahrplan einen Bus nach Belluno
gegen sieben Uhr ankündigte. Das folgende Gewitter hat mich
schon nicht mehr besonders aufgeregt, obwohl es keine zweihundert
Meter entfernt von mir einen Baum zerlegte.
Kurz
nach sieben brachte mich der Bus die letzten paar Kilometer nach
Belluno. Die Alpen lagen damit hinter mir. Ich habe mir eine
mehrtägige Pause in Belluno gegönnt. Auf der ganzen
Wanderung habe ich nicht eine einzige Blase bekommen und dennoch
konnte ich in Belluno zwei Tage lang nicht richtig laufen.
Abgesehen
davon, dass Belluno ohnehin eine sehr schöne, mittelalterliche
Stadt an der Piave ist, hat mir gefallen, dass der Domorganist einen
guten Geschmack hatte und beim Üben Publikum zuließ. Ich
liebe moderne Orgelmusik. Olivier Messiaen und eine mittelalterliche
Stadt wie Belluno passen gut zusammen.
Bis
Venedig wären es jetzt nach den Alpen noch fast 100 Kilometer.
Also 2 Chaostage oder 4 normale Tage oder 2 Stunden mit dem Bus.
Ich
fand, zwei Stunden mit dem Bus sei die bei weitem attraktivste
Möglichkeit. Dennoch! Ich wollte zu Fuß ankommen und
wählte den Bus nur bis Jesolo, um von dort die letzten 25
Kilometer zu wandern bis zur Fähre nach Punta Sabbioni. Wieder
ein schöner, heißer, letzter Tag, an dem mir alles noch
einmal durch den Kopf ging, bevor ich dann nach einem kleinen Umweg
an den Lido, wo ich mich mit meiner Frau verabredet hatte, zuletzt
auf dem Markusplatz ankam.
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